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Genuss in vollen Zügen

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Wenn einer eine Reise tut: mit der Bahn von München nach Stuttgart

München in diesen Tagen. Alles liegt unter einer dicken Schneedecke begraben. Über der Stadt wölbt sich ein kalter blauer Himmel, doch wen das Reisefieber packt, dem wird ganz anders. Wetterbedingt herrscht null Zugbetrieb. War die Großwetterlage noch winterlich schön, geriet der Rest dann aber eher nicht so toll. Gestern zumindest ging erst einmal gar nichts. Absolute Stille. Heute dann vorsichtiges Anfahren. 11.30 h sollte der erste Zug von München nach Stuttgart abgehen. Seitens der Bahn versprochen war zumindest schon mal Vollauslastung . Kein Wunder, dass die Fahrgäste das Versprechen wörtlich nahmen und nachschauten, ob das auch stimmt. Und in der Tat herrschte am Bahnsteig auch reges Gedränge, und es zeichnete sich recht schnell ab, dass der Zug überfüllt sein würde.

Wie oft zu Stoßzeiten standen die Leute dann auch in der Gängen, saßen auf Koffern oder versuchten, sich sonst irgendwie zu positionieren. Wer Glück hatte, fand einen Platz im Speisewagen. Alles also wie gehabt, wenn zur Urlaubszeit die Reiserei losgeht und die Bahn zu ihrem alljährlichen Erstaunen von den Fans überrannt wird. 

Aber diesmal sollte es etwas anders laufen. Da nämlich teilt der Zugführer über Lautsprecher mit: solange nicht jeder auf einem Platz sitze, könne der Zug sich nicht in Bewegung setzen. Dies geschehe aus Gründen der Sicherheit; es wäre zu unserem Besten. Nichts geht mehr. Keiner bewegt sich. Der Zugführer bleibt stur. Minute um Minute verrinnt. Der Zug steht. Kein Schaffner weit uns breit. Mittlerweile sind 35 Minuten verstrichen. Der Zug steht; zu unserer aller Sicherheit. Droht Achsenbruch? Alle sind genervt, vor allem auch jene Passagiere, für die das Reisen mit der Bahn auf Koffern bislang die übliche Fortbewegung war. Jetzt droht man nicht fixierten Fahrgästen per Lautsprecher sogar mit dem Hinzuziehen eines Ordnungsdienstes.

Den Rausschmiss vor Augen, habe ich mich gerade noch auf einen freien Platz in der 1. Klasse gerettet. Neben mir auf dem Boden sitzt eine Junge Frau. Sollten die angekündigten Polizeikräfte sich nähern, überlege ich, sie durch das Überwerfen meines Mantels vor einem eventuellen Zugriff zu schützen. Vielleicht passt sie in meinen Koffer? Man sollte sie verstecken. Vielleicht schmeißt man mich aus dem Zug, weil ich unerlaubt sitze oder im Begriff bin, Beihilfe zu widerrechtlicher Beförderung zu leisten?

Nach einer Stunde dann die Abfahrt. Zu einem fröhlichen Hallo bleibt keine Kraft mehr. Das, was jahrelang üblich war – das Reisen in übervollen Zügen –, solle auf einmal nicht mehr erlaubt sein? Ein Scherz? Es muss eine Verordnung in Kraft getreten sein, von der bislang niemand wusste.

Angesicht der schwerwiegenden Situation muss ein Verdacht hier freilich erlaubt sein: wäre es möglich, dass die Bahn kurz vor den anstehenden harten Tarifverhandlungen  noch versucht, Ballast abzuwerfen?

Allgemein Essen & Trinken Menschen Texte / Poesie

Auferstanden aus Ruinen

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Gottseidank haben wir ihn wieder. Den Eierlikör!

Lange war er weg. Das letzte Mal, da ich ihn bewusst wahrnahm, war anlässlich eines warmen Sommerabends bei der Großtante meines Vaters. Sie hieß Marie20170318_171620 und lebte mit ihrem Mann, einem fröhlich vor sich hin dilettierenden Kunstmaler, in ihrem nach einer verheerenden Bombennacht wieder eigenhändig aufgebauten Häuschen in Offenbach.

Dort saß nun mein hagerer Onkel Josef, ein nassgekauter kalter Stumpenstummel zwischen seinen Kriegszähnen, in seinem kleinen, eng zwischen den anderen Häusern eingeklemmt Gärtchen und malte: die Katze am Fenster, mit Wollknäul spielend. Der brave Landmann, hinter zwei mächtigen Kaltblütlern und seinem Pflug hergehend. Im Kreise der Enkel sehen wir die Großmutter am Spinnrad, auch hier wieder die Katze, jetzt aber Pfötchen leckend. Und dann ein Osterspaziergang, der Vater fröhlich vorneweg. Was man nach überlebten Bombennächten halt so malt.

20170318_171713Eines Tages aber erweiterte der Künstler sein malerisches Repertoire. Heidelberg und das zerstörtes Schloss wurde sein neues Sujet. Das an sich wäre noch nichts Besonderes, aber das Bild hatte auch ein ungewohnt großes Format. Dass hier in einer neuen Dimension gemalt wurde, muss schon deshalb erwähnt werden, weil eine große Leinwand damals wie heute teuer war. Ohnehin hatte meine sparsame Tante die Gewohnheit, jeden Teebeutel dreimal aufzubrühen. Zum Nachtisch gab es sonntags in Zuckerwasser gekochte Birnenschnitze. Zu jenen Zeiten war Schmalhans Küchenmeister.

Eines Tages aber saßen draußen im versteckten Hof sechs Damen auf kleinen, aus der Wohnung herbeigeschafften Stühlen. Sie beteten meinen Großonkel an, was ihn ziemlich stolz, meine Ur-Großtante aber ein wenig eifersüchtig machte. Der Grund der Versammlung war das von Onkel Josef geschaffene überaus romantische geratene Gemälde des Heidelberger Schlosses, dessen Romantik vor allem daraus resultierte, dass das Schloss – im Pfälzischen Krieg von den Franzosen in Brand gesteckt – feuerrot loderte. Dieser Eindruck wurde bei einbrechender Dämmerung zudem noch verstärkt, dass das Bild durch eine schwache Birne von hinten illuminiert wurde, was die Damen – gelinde gesagt – umhaute.

Doch das war nicht alles. Mir als Kind oblag es an diesem lauen Abend, einen vom Onkel handgeschriebenen Text aus einer Kladde vorzulesen, was ich als Kind zur großen Rührung der Zuhörerinnen auch tat. An den Inhalt erinnere ich mich nicht mehr genau. Irgendwie aber hatte der Text – stockend vorgetragen – etwas mit dem Mythos des Schlosses zu tun. Aber das war aber ohnehin zweitrangig, denn während der Beleuchtung zauberte mein stets nach kaltem Zigarrenrauch und Leinöl riechender Künstleronkel zur Entzückung seiner weiblichen Fans jetzt eine Flasche Eierlikör auf den Tisch, was von den Damen euphorisch begrüßt wurde, zumal der Eierlikör das Trendgetränk der damaligen Zeit war. „Prösterchen“, wurde gerufen, und eine der Damen senkte ihre Zunge tief ins Likörgläschen, den letzten Tropfen sich noch sichernd.

Mein Text war bald zu Ende gelesen und wurde abgelöst durch den ‚Treuen Husar‘, der aus einem dunkelbraunen Radio, aus der Küche heruntergebracht, in die von Steinmauern umfriedete Romantikenklave tönte. Die Gäste summten mit.

Irgendwann war der ‚Treue Husar‘ verklungen und die zartroten, zartblauen und zartgrünen Gläschen, in die Nachkriegszeit hinübergerettet, waren geleert (die 20170318_171842Fliegerbombe hatte also nicht alles vernichtet). Ganz in der Ferne hörte man eine Straßenbahn und immer noch kokelte das Heidelberger Schloss. Es war erfreulich spät geworden, als die Damen – ein bisschen erhitzt – sich verabschiedeten und gelobten,  doch recht bald wiederzukommen, um den restlichen Inhalt der Flasche auch noch zu trinken.

Die Damen weilen schon lange nicht mehr unter uns, und ob es dann zum Wiedersehen kam: ich weiß es nicht. Aber lange, allzu lange hat es gedauert, bis auch ich ihn, den lang Verschollenen, endlich wiedersah. Erst vereinzelt, fast verschämt, versteckt in den Regalen, in letzter Zeit aber häufiger, sich langsam in den Vordergrund und damit ins Bewusstsein schiebend. Der Eierlikör. Gelb, ölig, zähfließend.: „Ei, Ei, Ei Verpoorten. Verpoorten allerorten“.

Wir haben ihn wieder.

Allgemein

Kannnixdafür

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Normalerweise beschäftigen wir uns hier vorwiegend mit den wichtigen Dingen des Lebens wie etwa diesen, dass wir kürzlich mit unserem Blog die Millionengrenze gerissen haben. Ein andermal gehen wir der Frage nach, warum Katzen auf Bäume klettern und zu guter Letzt von der Feuerwehr geborgen werden müssen. Weiter hatten wir ein jüngst das Thema, dass ein Jagdhund durch ein fallendes Herbstblatt so irritiert war, dass er einfach stehen blieb, dem sanften Fall des Blattes aufmerksam  zusah und deshalb bei der finalen Eignungsprüfung durchfiel.

Das nur einige wenige Beispiele, die uns aber so wichtig erscheinen, dass wir glaubten, uns mit ihnen hier näher beschäftigen zu müssen. Neulich aber flog uns ein Thema förmlich zu, das eher abstrakt ist. Es dreht sich um die Frage: warum hat eigentlich heutzutage niemand mehr Schuld an irgendetwas?

Zunächst hier mal ein aktuelles, wenn auch fast politisch – philosophisches Beispiel: warum kann nach der aktuellen Lage offensichtlich niemand etwas dafür, wenn uns u.U. in nicht zu ferner Zukunft irgendwelche freundlich Zugezogenen sagen, wie wir zu leben haben. 

Machen wir’s mal ne Nummer kleiner und bringen noch zwei andere Fälle. Wer ist z.B. letztlich Schuld, wenn der eigene Rechner immer mal wieder aus heiterem Himmel abstützt und unsere Daten im Nirgendwo verschwinden? Wo könnte man sich beschweren? Beim Vorstand eines Internetgiganten? Und wie verhält es sich mit den Finanzämtern? Alljährlich fragt man sich, warum unsere Steuerrückzahlungen erst nach gefühlt jahrelanger Verspätung auf unserem Konto eingehen, obwohl doch jede Verzögerung unserseits pünktlich mit massiven Strafzinsen geahndet werden. Fragt man am Amt nach, können die Leute dort dafür nun aber wirklich nichts. Ansonsten ist der Kollege dort eben mit Corona beschäftige, lebt im Mutterschutz oder musste mal raus.

Das alles mag ziemlich ärgerlich ein; verglichen mit der Bahn ist das aber gar nichts!

Die Tatsache ist doch die: trotz offensichtlich größten Bemühungen seitens des Bahnbetriebs nimmt die Zahl der verspäteten oder ausgefallen Züge ständig zu. Da liegt die Frage nahe, wer eigentlich die Verantwortung für diese Unannehmlichkeiten oder Verspätungen letztlich trägt? Wer entschädigt den Reisenden für geplatzte Geschäftstermine, verpasste Flugverbindungen oder gar ausgefallene Begrüßungsküsse?
Erfahrungsgemäß wird ein Nachfragen wenig bringen. Nach Gründen für den Ausfall des Zuges gefragt erhält man ausweichende, wenn auch regional fein abgestimmt Antworten. In Berlin etwa wird die Antwort etwa so lauten: „Wees ik doch nich. Bin ik die Lok“? Oder weiter südlich: „Kann ich ihnen nich‘ sagen. Is‘ immer so“.
So bleibt nur zu konstatieren: nach Lage der Dinge kann neuerdings niemand mehr für irgendetwas. Keiner ist mehr Schuld. Es droht eine Zukunft der allgemeinen Nichtzuständigkeit.
Angesichts dieses Zustandes dürfen wir uns dann auch nicht wundern, wenn als schlüssiger Ausdruck all dieser Unzuständigkeiten neuerdings das Schulterzucken zur alles bestimmenden Geste der Schuld- oder Verantwortungslosigkeit zu werden droht. Ja, wie manch einer sich regelmäßig der körperlichen Ertüchtigung hingibt, so steht zu vermuten, dass ganze Heerscharen von Nichtverantwortungtragenden sich den lieben langen Tag in einem kollektiven Schulterzucken üben. Derart verbreitet, scheint das Heben und Senken der Schulter mittlerweile zu einem regelrechten Massenphänomen geworden zu sein.

So bleibt uns Geschädigten nur noch zu hoffen, dass sich die täglich vermehrende Masse der Nichtverantwortlichen beim alltäglichen Schulterzucken wenigstens die Schulter verrenkt. Was zugegebenermaßen ein eher schwacher Trost ist.

Aber dafür können wir ja nun wirklich nichts.

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„Tante Mimser“ Teil 1

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Die kleine Stadt Oberkirch liegt am Eingang zum Renchtal. Das Haus meiner Großeltern steht dort noch heute. Es liegt schräg gegenüber der evangelischen Kirche. Dieses Haus hatten meine Urgroßeltern gekauft, die, tüchtig wie sie offensichtlich waren, in Schildigheim bei Straßburg eine Metzgerei betrieben hatten und schon bald zwei Häuser besaßen. Dann ging der  1. Weltkrieg verloren und das Elsass gehörte wieder zu Frankreich. Plötzlich hörte mein Urgroßvater, im Elsass drohe den Deutschen die Enteignung. Es wäre besser, er würde beide Häuser verkaufen. Tatsächlich war Matthäi am letzten. Eines der Objekte konnte gerade noch veräußert werden. Ein Freund, Lokführer bei der Eisenbahn, schmuggelte ihm das Geld aus dem Verkauf ins Badische. So kam es, dass meine Familie mit diesem Geld das Haus der ehemaligen Poststation in Oberkirch erwarb und darin ein Hotel nebst Restaurant betrieb, das sie den ‚Schwarzen Adler’ nannte.

Das Haus liegt an der Hauptstrasse, direkt in einer scharfen Kurve. Dort erlebte ich als Kind, aus dem Fester lugend, wie sich ein kleines Auto, ein Simca voller Elsässer, diese Kurve wohl etwas zu schnell genommen hatte, sich dann pendelachsenbedingt zur Seite legte, worauf die Insassen den Wagen durchs Fenster verließen, den Simca schnell wieder auf die Achsen stellten und die Fahrt fortsetzten. Doch war das nicht das einzig Bemerkenswerte an meiner Kindheit. Da gab es noch ein Faktotum namens ‚Schwab’, der aus Urloffen stammte und als Knechtsfigur irgendwie zum Inventar gehörte. Er soll, so die Erzählung, mich als Kind unbändig geliebt haben. Weiter verwöhnte mich ein älteres Hausmädchen namens ‚Wieg’, nicht zu vergessen auch der erste Freund meiner Kindheit, der Uhrmacher Müller, bei dem ich auf dem Boden sitzend, von Zeit zu Zeit glücklich einen alten Wecker auseinanderschrauben durfte.

Seinen Vater nannte man damals aus heute nicht mehr nachvollziehbarem Grund ‚Quatre Vingt’. Ihm ging der Ruf voraus, er könne aus dem Fluss, der Rench, Forellen mit bloßer Hand fangen. Soweit hatte es sein Sohn, mein erwachsener Uhrmacherfreund, noch nicht gebracht. Der hatte sich vorerst einmal die dunkelhaarige Bedienung meiner Großmutter gefischt, mit der er ein Techtelmechtel pflegte. Sie hieß Elisabeth und muss wohl als irgendwie rassig gegolten haben, denn sie trug, wie die Zigeunerinnen auf zeitgenössischen Ölgemälden, große goldene Ohrringe und zudem noch schwarze Unterwäsche, die zu meinem knabenhaften Entzücken, allwöchentlich zum Trocknen an der Wäscheleine hing. Weiter gab es da noch eine ältere Dame, die – ich erinnere mich schemenhaft – auf dem riesigen Speicher des ‚Schwarzen Adler’ wohl eine Wohnung, tatsächlich aber eher eine Art Verschlag, bewohnte.

Das war Wilhelmine Rösch, auch die ‚Röschin’ genannt.

Diese Frau Rösch, von anderen auch noch Mimi genannt, betrieb in den frühen Sechzigerjahren eine Art Kiosk im ‚Städtl’. Dieser Kiosk lag eher versteckt in einer Gasse, die zum Kirchplatz führte. Der Kiosk bestand aus einem kleinen Raum, der ein Fenster nach draußen besaß. Dort, im Halbdunkeln, verkaufte sie neben allerlei Krimskrams vor allem Zeitschriften, darunter die ‚Bunte’, ‚Burda Moden’, auch die ‚Praline‘ und jede Menge Kreuzworträtselhefte. Unter den vielen Journalen, die dort zu haben waren, gab es bereits auch schon den ‚Spiegel’, was Wilhelmine Rösch bei den Honoratioren, die sich im Schwarzen Adler zum allwöchentlichen Stammtisch trafen, den Ruf eintrug, eine Intellektuelle zu sein.

Einer ihrer Kunden war der Obstgroßhändler Langenmeier, der, so stellte ich beim Sichten des Nachlasses meiner Großmutter fest, den ‚Spiegel‘ abonniert hatte und eigentlich jeden Artikel – mit seltenen Ausnahmen – von vorne bis hinten unterstrich, um nach abgeschlossener Lektüre das üppig bemalte Journal anschließend dem Hause großmütig zur allseitigen Erbauung zu überlassen. Dort lagen dann die Hefte im sogenannten Frühstückszimmer, und jeder Gast sah sich vom Obstgroßhändler Langenmeier also intellektuell an der Hand genommen, galt es, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.

Frau Rösch hatte sich, soweit mir erinnerlich, nie zum Inhalt des ‚Spiegel’ geäußert. Deutlich in Erinnerung ist mir aber noch ihr Parfum, das damals wohl ‚4711 Kölnisch Wasser’ war und das in der den älteren Damen gemäßen Geruchsrichtung ‚Tosca’ entweder durch tupfen aufgetragen oder aus einem Flacon versprüht wurde. Hier vermischt sich rückblickend die Erinnerung an ihren schon deutlich gefältelten Brustansatz. Da könnte ich jetzt auch noch an das Spitzentaschentüchlein denken, das, mit Klöppelrand, den Eau de Cologne Duft aufgenommen hatte, um ihn an entlegenerer Stelle zu konservieren.

Was damals noch aktuell war, ist, rückblickend betrachtet, der Duft von Gestern, der da vom Speicher herunterzog und in Person der Röschin allwöchentlich präsent war. Denn der Stammtisch der älteren Herren – von denen man sich nie vorstellen konnte dass sie je jung gewesen waren – rief immer nach Wilhelmine Rösch. Besuchte ich meiner Großmutter, war es an mir, Wilhelmine Rösch als eine Art kindlicher Emissär zur Teilnahme an der abendlichen Gesellschaft zu bitten. Sie war die einzige Frau, die, ohne je die Eifersucht der daheimgelassenen Gattinnen zu erregen, an den runden Tisch gebeten werden durfte. Die Glückliche.

 

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„Tante Mimser“ Teil 2

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Im Amerika der 50er Jahre  gab es eine Gesellschaftsdame namens Elsa Maxwell. Sie war, wie aus alten Illustriertenfotos ersichtlich, von ähnlicher Statur wie die Röschin. Ebenso altfüllig, sah man sie meist im Kreise prominenter Amerikaner und Amerikanerinnen. Sie war wohl, wie zu lesen war, die Beichtmutter einer ganzen Promigeneration. Sie war gebildet und unterhaltsam. Von einem reichen Gönner gefragt, womit er ihr eine Freunde machen könnte, hatte sie ‚Kreisler’ gesagt, worauf sich Tage später ein chromblitzender Chrysler Straßenkreuzer von ihrer Tür fand, nicht ahnend, dass die beschenkte Adressatin den Geiger Fritz Kreisler gemeint hatte. Jedenfalls war man in Amerikas High Society froh um ihren Rat und ihre Diskretion.

Es muss sich aber auch in den damals von Wilhelmine Rösch vertriebenen Zeitschriften Hinweise auf ebendiese Elsa Maxwell gegeben haben, denn eines nicht so schönen Tages fand sich, was damals noch völlig unüblich war, an der Hauswand des Schwarzen Adler hingeschmiert der Satz: „Wilhelmine Rösch, die Elsa Maxwell vom Renchtal“.

Dies führe ich nur an, um die Bedeutung der Mimi zu bebildern. Jedenfalls freuten sich die älteren, den Krieg überlebt habenden Herren, sie in ihrem Kreis zu wissen, sie, mit ihrem Geist und ihrem Gespür für Klatsch und Tratsch. Da sie nie und nimmer genug Geld gehabt hätte, sich den abendlichen Klingelberger leisten zu können, durfte sie sich immer als eingeladen betrachten. Gegenteiliges ist jedenfalls in der Chronik des runden Tisches, dem sie angehörte, nicht verzeichnet. Wer hatte bezahlt? Davon ist nichts vermerkt. Man hatte es gern diskret.

Wer aber waren diese spendablen, damals schon etwas älteren Herren? Mir als Kind waren sie jedenfalls so erschienen. Ich kann mich aber täuschen. Früher war man früher alt. Jedenfalls waren sie alle Mitglieder eines honorigen Herrenstammtisches, um dessen Rund sich Angehörige der besseren Stände versammelten. Ihre Namen sind alle verzeichnet in drei massiven Bänden, die, von dunkelbraunen Schubern geschützt, pünktlich und detailliert auflisten, wer wann da war, wo er saß und über was gesprochen wurde. Die Bücher waren Teil des von mir angetretenen nicht eben großen Familienerbes, das ich allerdings gern noch um das Rezept der von meiner Großmutter alljährlich gebackenen Weihnachtsplätzchen namens ‚Nussnester’ ergänzt gesehen hätte. Was aber nicht der Fall war. So blieben mir, neben wenigen anderen Dingen, nur diese drei Bände, in denen ich blättere und deren letzter Band der Beginn einer Ära einläuten sollte.

Am 3.11.1966 z.B. hatte man über dieses und jenes gesprochen. Es war der Geburtstag „unserer lieben Frau Schirmann“, meiner Großmutter. So trank man „auf ihr Wohl mit ihrem Sekt“. Da traf es sich gut, dass die Herren Langenmaier, Egelhaaf, Lehrke und Rhein da waren, eine eher kleine Besetzung. Dr. Bohrmann blieb entschuldigt „als krank“ fern („gestern konnte er noch massieren“), und Herrn Apelt, der in der Regel die Chronik führte, weilte im 40 Km entfernten Baden-Baden. Dort machte man, konnte man sich’s leisten, gern im ‚Brenner’s Parkhotel’ ein paar Tage Urlaub. Die Woche drauf aber war er wieder da, und so konnte die Kladde vermerken, dass es „Gute Unterhaltung gegen Schluss 11 h mit Apelt“ gegeben hatte. Empörung äußerte man allenthalben, dass die FDP mit ihren vier Ministern aus der Regierung Erhard ausgeschieden sei, und man bescheinigte ihr damals einen „Mangel an Gesinnung und Charakter“.

Frau Rösch ist als ‚anwesend’ nie gesondert vermerkt, aber am 17.11.1966 widerfährt ihr große Beachtung. Leider, muss man sagen. Der Band Nr. 3 vermerkt tatsächlich ihren Namen, der ausnahmsweise wie all die anderen Namen über die Jahre, am runden Tisch mit eingezeichneter Position vermerkt worden war. Eine Ausnahme, wie es scheint, denn der Anlass war ein traurig Besonderer. „Von 21h-23h in Frische und bei guter Unterhaltung, sank unsere liebe gute Frau Rösch unerwartet zur Seite. Gestützt von mir und Dr. Bohrmann (offensichtlich war Dr. Bohrmann an besagtem Tag wieder zum Massieren gekommen d.V) – konnte sie sich nicht mehr erheben. Der Tod hatte sie ereilt“.

Man wird nicht umhingekommen sein, auch die Scherben ihres Glases aufzulesen, denn wie mir meine Großmutter Jahre später noch erzählte, hatte die eben Verblichene, bevor sie fiel, noch den halbvollen Römer erhoben. Aus der Nachbarschaft herbeigerufen war dann ein Herr Dr. Kessler erschienen, dem aber nicht mehr zu tun blieb, als den Heimgang der doch irgendwie glücklich aus dem Leben Geschiedenen zu konstatieren.

So kam es denn auch noch, dass durch die Todesanzeige, geschalten von einer Verwandten namens Martha Riese-Weingart, die meines Wissens nie zuvor in Erscheinung getreten war, alle Welt erfahren sollte, dass Frau Wilhelmine Rösch im Leben offensichtlich auch noch ‚Tante Mimser’ genannt wurde.

 

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