Allgemein Kultur Musik

„Freude in das Kinderland“

Wie die Hohner Melodica einmal die deutschen Kinderzimmer zum Klingen brachte

Ein Herr Dr. Dorner war 1958 Leiter der Abteilung Metallbau-Akkordeon bei der Firma Hohner.  Um die Firma zukunftssicher zu machen, kümmerte er sich vorrangig um die  Entwicklung neuer Instrumente. Das Gestalten der Zukunft – eine durchaus verantwortungsvolle Aufgabe.

Und doch: wer Zukünftiges denken soll, darf den Blick ruhig auch einmal auf die Vergangenheit richten. Dort richtete sich sein Blick womöglich auf den  Urahn der Dynastie, Matthias Hohner, der 1833 geboren war und mit seiner Gattin Anna dreizehn Kinder hatte. Vielleicht war es gerade diese Vorstellung, dass in grauer Vorzeit – das Land war arm – auf der Baar dreizehn junge Münder am selben Blockflötenmundstück nuckelten? Jedenfalls reifte in dem Ingenieur, neben der Erfindung der Melodica, auch die Idee, das Instrument mit unterschiedlich farbigen Mundstücken auszustatten. So konnte man  drohende innerfamiliäre Verwerfungen vermeiden. Ein Kind, ein Mundstück.

So war es das Jahr 1958, als Hohner das erste Instrument der neuen Instrumentenreihe, die SOPRANO MELODICA, auf den Markt brachte. Ein Instrument mit „Stummeltasten“ aus der Familie der Blasharmonikas, das „den eingeblasenen Luftstrom durch Drücken einer Taste in eine Kanzelle fließen“ lässt, so der damalige Prospekt. Ihr Klang ähnelte schon damals dem Klang eines Akkordeons. Ansonsten liegt man nicht falsch, wenn man in einer Melodica die neuzeitliche Fortschreibung der Idee ‚Flöte‘ sieht. Nicht zu teuer, leicht zu transportieren, einfach zu spielen. Das Plastikinstrument schlug damals ein wie die sprichwörtliche Bombe. Das war schon mal ein guter, ein sehr guter Anfang.

Doch ließ der schöne anfängliche Erfolg die Entwickler nicht ruhen. Schon 1961 schob man eine neue Variante nach. Die PIANO MELODICA. Sie bot zum ersten Mal eine vollwertige Klaviertastatur, war also irgendwie ‚erwachsen‘. Und doch war 1975 die Konkurrenz noch hart wie Holz. 4,3 Millionen Menschen hatten sich der Blockflöten verschrieben, die mit ihrem freundlich frömmelnden Holzton vergleichsweise bieder tönte. Alsbald aber lagen über eine Million Melodicas in deutschen Kinderzimmern. Entweder vom Christkind gebracht oder vom Vati gekauft. Das deutsche Kind war jetzt im Melodica Rausch. Orchester bildeten sich, Kinder musizierten; in Kindergärten, in Schulen, in den Wäldern. Überall wurden jetzt Mundstücke fröhlich eingespeichelt.

Und wie immer mal wieder, hatte die Firma Hohner das Glück des Tüchtigen. So etwa, als eines Tages Stevie Wonder das Hohner Clavinett für sich entdeckte und der Firma einen wahren Verkaufsboom verschaffte. In den 80er Jahren war der Funk ohne das Clavinett kaum vorstellbar. Ob Stevie Wonders ‚Superstition‘, Tina Turners ‚Nutbush City Limits‘ oder Pink Floyd ‚Shine On You Crazy Diamond‘ – wenige Produktionen kommen zu dieser Zeit ohne das Produkt aus Trossingen aus. Selbst dann, als die westdeutschen Kinderzimmer eine gewisse Melodica – Sättigung erreicht hatten, wurde kräftig weiterentwickelt. Nun aber für gehobene Bedürfnisse. Es entstand das ‚Piano 36 Professional‘ und andere, denn jetzt – oh Wunder! – hatte die die Popwelt das Instrument entdeckt. UB 40, Joe Jackson und die Bots, die Hooters und Depeche Mode, sie alle sahen in der Melodica eine willkommene Abrundung ihrer Klänge. Glückliche Zeiten!

Heute ist die Produktlinie auf drei Sparten zusammengeschmolzen, darunter das Modell ‚Airboard‘ in seiner bunt-ansprechenden Farbgebung ‚Rasta‘. Andere sind hinzugekommen. Mittlerweile gibt es auch einen sog. Anblasschlauch, der das kinderverbindende Mundstück überflüssig macht – obwohl es noch auf Lager ist! Selbst die Firma Hammond, bekannt durch Ihre legendäre Hammond Orgeln, hat nunmehr ein ähnliches Instrument im Angebot, freilich ungleich teurer.

Die Firma Hohner aber, jetzt in taiwanesischem Besitz, entwickelt weiter. Neue Produkte kommen auf den Markt, aber man kann fragen, ob die Melodica zu alter Blüte findet. Neue Instrumente wurden seither entwickelt. Keyboards wurden billiger, in ihren Möglichkeiten vielfältiger. Heute werden pro Jahr noch etwa sechzigtausend Melodicas hergestellt, ein deutlicher Rückgang. Warum ist nicht mehr alles so wie früher?

Darüber haben schon viele räsoniert. Z.B. der kaum entnazifizierte Chronist des Hauses, August Lämmle. Der machte schon Mitte der sechziger Jahre in seinem Band „Matthias Hohner – Leben und Werk“ den „Rückgang der Kinderzahl in allen Kulturstaaten“ für derlei Trends verantwortlich. Dadurch sei das Geschäft nicht einfacher geworden, denn schließlich will die Industrie „doch mit ihren Erzeugnissen in erster Linie vor allem Freude in das Kinderland tragen“.

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