Wie in der ‚Weststadt‘ von Baden-Baden irgendwie ein Wunder geschah
Der Morgen nach dem ‚Schmutzigen Dunschdig’ ist dieses Jahr verregnet. Draußen in der Weststadt glänzt trüb das Wasser auf der Straße. Die Busse der Linie 201 schaukeln traurig verschlafene Passagiere in Richtung Bahnhof. Vorbei geht die Fahrt auch an der Großen Dollenstrasse, in der, wie man hört, vor langer Zeit Tony Marschall gelebt haben soll. Er wird in Baden-Baden nur ‚Unser Tony’ genannt, und man durfte von ihm über all die Jahre viel Lustiges erwarten. Aber auch die Große Dollenstraße ist an diesem Tag traurig und nass.
Verstärkt wird der Eindruck noch durch den erbärmlichen Anblick, den das ‚Hemingway’ bietet, eine Gaststätte, die, obwohl immer gut besucht, plötzlich geschlossen war, bevor ein anderes Wirtehepaar diese übernahm und ihr den wenig ansprechenden Namen ‚Brauhaus West’ verpasste. Was dem Lokal dann endgültig den Rest gab. Das Ehepaar war dann weitergezogen, nach Oberkirch wie man hört, aber noch heute erkennt man unschwer den mit Kreide auf eine Tafel geschriebenen und für Baden-Baden erstaunlich günstigen Bierpreis von € 3,40 die Halbe.
Auf der Straße unmittelbar vor der Kneipe liegen an diesem Morgen Reste von Fasnetschmuck, Konfetti und Luftschlagen. Irgendjemand hatte sie achtlos auf die Straße geworfen. Jetzt liegen sie durchgeweicht in einer Pfütze, sorgen aber immerhin dafür, dass wenigstens ein bisschen Bunt ins Morgengrau der Straße kommt. Abgefallen auch noch eine jetzt plattgefahrene Pappnase. Auch sie könnte davon erzählen, wie lustig es in der vergangenen Nacht im Stadtviertel zugegangen sein muss, wo die alten Weiber es wieder mal so richtig hatten krachen lassen.
Wie toll es dabei aber wirklich zugegangen sein muss, erkennt man an der schräg gegenüber liegenden Bushaltestelle, die mit ihrem gläsernen Unterstand Fahrgäste vor Wind und Wetter schützt. Dort in der Ecke lehnt am Morgen danach eine Krücke mit blauem Griff, die jemand zurückgelassen hatte. Man hatte sie nicht mehr gebraucht. Das Thema hatte sich offensichtlich erledigt. Aber wodurch?
In keinem Fall auszuschließen ist, dass die Stimmung bei der ‚Altweiber-Fastnacht’ derartig gut gewesen sein könnte, dass ‚Fr. Jülg’ – so ihr Name, der ist auf die Innenseite der Krücke geschrieben ist – ohne Gehilfe plötzlich wieder gehen kann. Möglich, dass sie im Rausch der Feier ihr Gebrechen schlichtweg vergessen hatte und die Krücke an der Bushaltestelle deshalb stehen ließ. In diesem Fall darf man getrost von einem Wunder sprechen, dem Wunder der Weststadt. Zu diesem Wunder beigetragen hat ohne es zu wissen vielleicht auch Tony Marschall, dessen fröhliche Lieder dafür sorgten, dass Lahme wieder gehen können. Wäre dem so, sollte man den Sänger heilig sprechen, ein Ansinnen, dem Tony kaum widersprechen würde.
Aber noch ist es nicht soweit.
In jedem Fall kann die Gehhilfe ab Mitte kommender Woche von der rechtmäßigen Besitzerin, Frau Jülg, beim Fundbüro der Verkehrsbetriebe Baden-Baden in der Beuerner Straße 25 abgeholt werden. Gern auch zu Fuß. Aber bitte nicht vergessen, den Personalausweis mitzubringen. Nicht dass die Krücke in falsche Hände gerät!