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Die Erde dreht sich. Der Ball auch.

Jetzt, wo die WM fast schon gelaufen ist, muss ich noch anmerken, dass ich in der letzten Zeit – kaum dass ich eine Baden-Badener Kneipe besuche – verstärkt in Standardsituationen geraten bin. Das lag natürlich am Fernseher, aber auch an der unübersehbaren Menge an Fachmännern und Fachfrauen davor. Es scheint, als hätten sich die Baden-Badener in ein Volk von  Ballverstehern verwandelt. An der Oos ist die Erde zum Ball geworden.

 

Natürlich sind die Zeiten längst vorbei, als man, um überhaupt mitreden zu können, am Sonntagnachmittag auf dem Bolzplatz mit dem Zigarrenkistchen betteln musste, um von den Zuschauern 1 DM (oder waren es 50 Pfennige?) einzusammeln. Ob da viel zusammenkam, weiß ich nicht mehr. Sicher aber weiß ich, dass das Kassieren den Ballverstand enorm gefördert hat. Wer da, das Spiel im Blick, die Kiste in der Hand, den Spielverlauf kommentierte, dem konnte es passieren, dass er dergestalt beschieden wurde: er solle jetzt erst mal das Maul halten und sagen, wie viel wir eingenommen haben. Ach. Tempi passati!

Die heutige Ausbildung findet vor dem Flachbildschirm statt; die Lehrer heißt nicht mehr Eugen oder Emil, sondern Mechmet. Von dem erfährt man dann nicht nur, wie Mann deckt (oder wie Mann Raum deckt). Nein, man erfährt auch dass es jedem Spieler freigestellt bleibt, welchen Schuh er anzieht. Die einen tragen Adidas, sie anderen Nike.  Man erfährt aber auch, wo der Spieler den Schuh anzieht, wenn er nicht mehr drückt, weil er ihn bei einer Aktion verloren hat. Da muss der ‚Schlappenkicker‘ (so hätte man früher gesagt) nämlich das Spielfeld verlassen. Angezogen wird der Schuh draussen, wie ich jetzt weiß. Früher wär der schnell wieder reingeschlüpft. Geht nicht. Wer heute ohne seinen Schuh auf dem Spielfeld steht, darf zwar nicht gleich weiterspielen, hat aber immerhin  ein Regelwerk, das die Situation regelt. Denn mit nur einem Schuh auf dem Rasen stehen ist ja schließlich keine Standardsituation.

Um eine solche handelt es sich eher, wenn meine Nachbarin mit einer süssen schwarz-rot-goldener Zeichnung auf der Backe ‚Latte‘ ruft und Gefahr läuft, mit dem Getränk gleichen Namens  bedient zu werden. Früher hätte der Wirt einen Schnaps gebracht, um den Schmerz über das verpasste Tor- zu lindern.  

Ach Gott. Und Messi? Einer wie ich, der sich noch fast liebevoll an die Zeiten erinnert, als Stürmer noch ‚zurückhängend‘ waren und Netzer aus der Tiefe des Raumes kam, für so einen war ein Messi einer, den man lieber nicht in seiner Mietwohnung haben wollte, weil er alles vollsaut und ein Durcheinander hinterlässt, dass es einem nur so gruselt. Hat sich auch geändert. Der Messi, mit dem wir es hier zu tun haben, weiß immer genau, wo er im spielerischen Durcheinander nach dem Ball suchen muss, oder noch besser: wo er ihn hat. Meistens auf dem Fuss, wie der eine oder andere Keeper derzeit schmerzlich erfahren muss. 

Beachtlich ist auch die derzeitige Kopfballstärke der Spieler, die allerdings auch ihre schmerzliche Seite hat. Vor allem, wenn die Spieler, wie -sagen wir mal – Arjen Robben, das Haar eher kurz, also nicht gescheitelt tragen. Da findet sich dann doch immer mal wieder Kopf an Kopf, was anfänglich ein Rennen war, dann aber zum Luftkampf ausartet. Das tut richtig weh und stellt an die Reanimationsfähigkeit des medizinischen Personals hohe, ja, höchste Anforderungen.

Geweint wird nach dem Spiel. Weniger von den Spielern selbst, eher mehr von den Zuschauern vor Ort, wenn die Einsicht reift: alles ist aus! Nun will ich mich nicht in Trauer-Rankings verheddern, meine aber doch, dass die Brasilianer am schönsten weinen. Gut, sie hatten auch allen Grund dazu. Aber wenn man diesen doch enormen Grad an Verzweiflung sieht, dann kriegt das eine etwas merkwürdige Komponente schon dadurch, dass der Brasilianer sich andererseits auch am lustigsten zurechtgemacht hat. Da wird manch ein mitteleuropäischer Kulturwissenschaftler darauf hinweisen, dass der tiefste Schmerz aus  dem heitersten Lachen kommt. Oder so ähnlich, jedenfalls. 

 

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